Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität

Prof. Dr. Arno Gruen Vortrag am 12. April 2003 im Rahmen der 53. Lindauer Psychotherapiewochen 2003 (www.Lptw.de)

1961 erschien im „Nervenarzt“ eine Studie vom Heidelberger Psychosomatiker, Dr. Friedtjov Schaeffer, über „Pathologische Treue“. Er beschrieb hier die verheerenden Auswirkungen einer Treue seitens einer jungen Frau zu einer Großmutter, die unmenschlich, sadistisch, quälend und gewalttätig mit ihr umging. Ihre eigenen menschlichen Regungen wurden von dieser Großmutter und ihr selbst als hassenswerte Schwäche bekämpft. Die Brutalität dieser Ersatzmutter entschuldigte das Opfer damit, dass diese so viel habe arbeiten müssen. Ihr Alltag wurde so zum ausschließlichen Maßstab dessen, was sie erwarten durfte, und die Möglichkeit etwas besseres zu erleben verschwand aus ihrem Gesichtskreis, weil diese Möglichkeit mit Angst und Terror belegt war.

Diese Treue ist in der Tat ein Gehorsam, durch den diese junge Frau jede Regung dieser Großmutter zu Ihrer eigenen machte. Dadurch wurden die Missstände ihres Lebens nicht nur aufrechterhalten, sondern auch moralisch gerechtfertigt und verteidigt. Es ist genau diese moralische Rechtfertigung, die wir im gesellschaftlichen Leben immer wieder da treffen, wo Menschen ihrem Unterdrücker beigetreten sind. Die Kehrseite jeder Treue ist eben der Gehorsam um umgekehrt impliziert jeder Gehorsam diese Treue. Nur glauben Menschen sich treu und deswegen nicht gehorsam, weil sie sich als treu – also aus „freier Wahl“ – erleben. Aber der Tatbestand, dass man Treue als einen moralischen Wert empfindet, den man selber wählt, verhüllt seine Wurzeln in einem Gehorsam, der der Identifikation mit den Mächtigen dient. Beide, Treu und Gehorsam, haben dieselben Wurzeln in einem Beitreten zur Autorität, wodurch die resultierende freiwillige Knechtschaft als moralischer Wert und bewundernswerte Qualität eines Menschen vor Augen gehalten wird. Solches Verhalten ist das Resultat eines destruktiven Vorgangs, indem eigener Wert zum Unwert und Unwert zum Wert umgewandelt wurde.

Es ist schon etwas eigenartiges, dass der Mensch, wenn er mit Terror und Nichtexistenz bedroht ist, sich mit der ihn bedrohenden Instanz identifiziert, sich mit ihr verschmelzt, seine Identität aufgibt, um vermeintliche Rettung zu erlangen. Der Dichter Rainer Maria Rilke erkennt in seinem „Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke“, ein Vorfahre von Ihm, diesen Tatbestand, intuitiv. Dieser Cornet Rilke ist, auf einem der Kreuzzüge gegen die Heiden, von einer Gruppe von ihnen umzingelt. Im Gedicht erlebt dieser Held, die auf ihn niederschlagenden blitzenden Säbel als einen lachenden, auf ihn rieselnden Wasserbrunnen. Um unsere eigene Einheit zu bewahren werden wir blind, um den uns konfrontierenden Terror nicht zu registrieren. Stattdessen halluzinieren wir eine Einheit mit dem uns bedrohenden Andern und verlieren unsere eigene Identität und manchmal unser Leben.

Silverberg (1947) beschreibt diesen Mechanismus der Identifizierung mit dem Aggressor als eine bereits in frühester Kindheit auftretende Reaktion auf äußerste Hilflosigkeit. Was hier zu passieren scheint, ist eine Verneinung der Differenzierung, der Trennung vom bemutternden Objekt, weil das in diesem Entwicklungsstadium zu bedrohlich wäre. Diese Trennung darf nicht, kann nicht wahrgenommen werden, sonst wäre das Überleben gefährdet. Damit dies ermöglicht wird, bedarf es eines Manövers, vergleichbar mit einer Halluzination, einer Phantasie oder einem Traum. Es besteht darin, dass die Wirklichkeit zwischen sich selbst und dem anderen verdreht wird. Es ist, als ob das frühkindliche Ich doch einmal etwas besseres erlebt hat und nun versucht, diesen Zustand zurückzuholen (Silverberg, 1952), indem es eine phantasierte Homöostasis aufrechterhält, um sein Weiterleben zu ermöglichen – Terror kippt in Geborgenheit um.

Das ist, was Gehorsam bewirkt und zugleich steuert. Es ist ein uralter Mechanismus, dessen Wurzeln in frühester Kindheit liegen, als wir dem Versuch der uns versorgenden Erwachsenen ausgesetzt waren, uns ihren Willen aufzuzwingen. Diese Erfahrung bedroht jedes Kind mit dem Erlöschen seines eigenen, gerade im Keimen begriffenen Selbst. Das Ergebnis dieses Prozesses ist, dass gerade solche Kinder, deren Willen besonders stark einem Ausmerzen unterworfen war, einen verhängnisvollen Gehorsam und Treue gegenüber Autoritäten entwickeln. Das Unheil dieser Entwicklung liegt gerade darin, dass der Gehorsam ein Beitreten, eine Identifizierung mit demjenigen, der Gehorsam verlangt, mit sich bringt. Wenn ein Kind von demjenigen, der es schützen sollte, körperlich und / oder seelisch überwältigt wird, und wenn es zu niemandem fliehen kann, wird es von einer überwältigenden Angst heimgesucht. Für den kleinen, werdenden Erwachsenen bleibt dann nur noch die Möglichkeit eines Manövers, um die Angst, mit der keiner leben kann, in den Griff zu bekommen. Diese Angst ist so enorm, so paralysierend, dass sie beiseite geschoben, abgespalten werden muss – nicht nur verdrängt. Abspaltung bedeutet eine Absonderung von Teilen der Psyche, die einem Menschen zur Gefahr wurden, so dass sie dann nur in Isolation weiterbestehen können.

Um diese Angst, wie auch den mit ihr verbundenen Schmerz von sich weghalten zu können, geschieht etwas Außerordentliches. Das Kind fängt an, seinen Unterdrücker, den Aggressor, zu idealisieren, ihn zum Objekt seiner Identifikation zu machen. Auch Erwachsene können diesen Vorgang unter den Bedingungen einer Gefangenschaft und der Folter wiederholen. Jacobo Timmermann hat dies für die Folter unter der argentinischen Diktatur belegt (1982), Wole Soyinka für Nigeria unter dem Diktator General Gowan (1972). Eine Variante dieses Vorgangs beschreibt Spence (1996). Politische Gefangene im heutigen chinesischen Gulag waren überzeugt, dass es ihre eigene Schuld war, nicht die ihrer Peiniger, dass sie am verhungern und sterben waren.

Anna Freud hat 1936 diesen Vorgang der Identifikation mit dem Aggressor verdeutlicht. Es war jedoch Sandor Ferenczi, der im Jahr 1932 dies nicht nur beschrieb, sondern auch die Verankerungen dieses Vorgangs in einem gesellschaftlichen Umfeld, das es den Eltern erlaubt, die Abhängigkeit ihrer Kinder für eigene Selbstzwecke auszunützen, klarmachte. Er zeigte, wie Kinder, wenn sie elterlicher Gewalt ausgesetzt sind, paralysiert werden. „Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend, sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren.“ Mit solch einem Vorgang entwickelt sich ein Kind mit gebrochenem Vertrauen zur Aussage der eigenen Sinne.

Noch etwas Grundlegendes für jegliche dem Gehorsam ergebene Kultur geschieht während dieses Vorgangs. Ferenczi beschreibt nämlich, wie die ängstliche Identifizierung mit dem Erwachsenen im Seelenleben des Kindes auch Schuldgefühle hervorruft. Das Kind introjiziert die Schuldgefühle des Erwachsenen. Durch die Identifikation übernimmt das Kind, was der Erwachsene sich selbst nicht wissen lässt. Zusätzlich jedoch passiert noch etwas: Schuldgefühle halten die Bindung an die Eltern aufrecht, denn sie geben ihm vermeintliche Hoffnung, aus eigener Kraft eine Besserung der Beziehung zu den Eltern herbeizuführen. Schuldgefühle, die einerseits das Gefühl von Wertlosigkeit auslösen, werden so andererseits zur Rettung. Sie scheinen eine Erlösung aus der unerträglichen Lage des Ausgeliefertseins möglich zu machen. Das ist eben das Paradoxon: Einerseits weisen wir Schuld ab, andererseits gibt sie uns in der Tiefe unseres Unterbewussten eine Verbindung zu den ablehnenden und bestrafenden Eltern. Das hält unser Sein zusammen. Das Resultat ist ein Persönlichkeitsgefüge, das innere Regungen zur Freiheit mit Ungehorsam gegenüber der Macht, von der man Anerkennung und Lob möchte, gleichsetzt. Gleichzeitig wird alles gehasst, was die dahinter steckende Angst und damit die wahre Ursache des wahren Leidens aufdecken könnte. Aus diesem Grund müssen Menschen mit einer solchen Entwicklungsgeschichte alles, was zur Wahrheit, wie auch zu wirklicher Liebe führen könnte, nicht nur hassen, sondern auch zerstören. Gehorsam ist aus diesem Grunde nie einfach gehorsam, sondern eine geballte Dynamik von Gefühlen und Identitätsstrukturen, die der Entfremdung des Menschen von sich selber dienen (Gruen, 1968, 1987, 1997, 1998, 1999, 2000, 2002, 2003).

Ursachen des Gehorsams stehen in unmittelbarer Verbindung zu den Vorgängen der Entfremdung. Denn die Gewalt, die unser Eigenes zum Fremden macht, ist dieselbe, die den Gehorsam erzwingt. Das Ausmaß an Gewalt, das der Einzelne erfährt, bestimmt den Grad seiner Autoritätshörigkeit. Milgrams Arbeiten (1963, 1975) zeigen, dass der Gehorsam in unserer Kultur eine viel größere Rolle spielt, als wir wahrhaben möchten. Wir selbst halten uns in der Regel ja nicht für gehorsam. Milgram hatte seine Untersuchungen in Conneticut durchgeführt, also einem jener US-Staaten, die 1776 als erste gegen England revoltierten und die gemeinhin als sehr demokratisch gelten. Milgram wollte Erklärungen für die Auswüchse des Gehorsams während der Nazizeit finden. Die Arbeiten von Theodor Adorno (1950) und Erich Fromm (1941) hatten ihn zu seinen Experimenten inspiriert. Zu seiner eigenen Überraschung zeigte sich dann, dass auch normale amerikanische Mittelklassebürger zu grausamen Taten bereit waren, wenn eine Respektperson ihnen Gehorsam abverlangte. 65 % von Milgrams Versuchsteilnehmern folgten ohne große Widerrede den Anweisungen eines Versuchsleiters, die als wissenschaftliche Autorität ausgewiesen wurde. In einem vermeintlichen Forschungsprojekt ließen sie einen Menschen aus angeblich pädagogischen Gründen mit elektrischen Stromstößen behandeln, obwohl dieser unter Schmerzen zusammenbrach (das „Opfer“ wurde von einem Schauspieler dargestellt). Selbst Schreie und Ohnmachtsanfälle des Gepeinigten konnten die meisten Versuchspersonen nicht davon abbringen, den Anordnungen des Leiters Folge zu leisten. Nur einer von dreien weigerte sich, mit der Quälerei fortzufahren. Milgrams Experiment wurde inzwischen in vielen Ländern, auch in Deutschland, wiederholt – stets mit denselben Resultaten.

Die Anfänge dieser Entfremdung von eigener Wahrnehmung der Gefühlslage eines anderen liegen, wie schon gesagt, in der Kindheit. Das wird nirgendwo deutlicher als in einem Satz, den Hitler 1934 bei einer Rede vor der NS-Frauenschaft formulierte: „Jedes Kind ist eine Schlacht“ (S. Chamberlain, 1977). Damit drückte er in erschreckend klarer Weise aus, was in westlichen Kulturen auch heute noch oft als unumstößliche Wahrheit angesehen wird: Dass es eine natürliche Feindschaft gibt zwischen Säugling und Eltern. Im Kampf der sogenannten Sozialisation muss das Kind dazu gebracht werden, sich dem Willen der Eltern zu unterwerfen. Das Kind muss daran gehindert werden, seinen eigenen Bedürfnissen und Genüssen nachzugehen. Der Konflikt, so heißt es, ist unvermeidlich und er muss zum Wohle des Kindes durch die Beharrlichkeit der Eltern gelöst werden. Die Eigenschaften, die Eltern ihren Kindern am häufigsten zuschreiben, sind Unsauberkeit, Unreinheit, Gier, Unstetsein, Zerstörungswut. Kinder sind, auch Freud sah es so, unersättlich in ihrem Trieb, stets darauf erpicht, dem Lustprinzip zu folgen. Es sollte uns hellhörig machen, dass es genau dieselben Eigenschaften sind, die dem gehassten Fremden – ob Jude, Zigeuner, Chinese, Katholik, Kroate, Serbe, Tschetschene, Kommunist usw. – immer wieder unterstellt werden.

Wie diese Erziehungsmethoden sich in einem Gehorsam umsetzen, der die Persönlichkeitsstrukturen eines Menschen verzehrt, zeigt folgendes Beispiel: ein Patient, ein 50jähriger Geologe, berichtet von seinem Vater, der freiwillig in Hitlers Wehrmacht gekämpft hatte. Der Vater zeigte nicht nur eine extrem autoritäre Haltung seinem kleinen Sohn gegenüber, er züchtigte ihn auch körperlich für die kleinsten Abweichungen vom vorgeschriebenen Verhalten. Seine Frau behandelte er ebenfalls herabsetzend und gewalttätig. Die Mutter nahm den Sohn allerdings nie in Schutz. Nur einmal, als das Kind 7 Jahre alt war, griff sie ein, weil sie glaubte, der Vater würde ihn in seiner Wut erschlagen. Der Sohn, gehorsam und stets bereit, sich zu fügen, wurde auch als Erwachsener noch von großen Schuldgefühlen geplagt, wenn er an seinem Vater zweifelte. Er kam in die Therapie, weil er sich trotz allem das Gefühl bewahrt hatte, dass mit der Welt, in der lebte, etwas nicht in Ordnung war. Der Patient hatte schon früh den Entschluss gefasst, niemals Kinder zu haben. Er wurde jedes Mal sehr wütend, wenn er Kinder schreien hörte. Er erlebte dieses Weinen als einen Versuch, ihm etwas aufzunötigen. Das machte ihn so rasend, dass er Angst hatte, ein Kind in einer solchen Situation gegen die Wand zu schmettern. Soweit wollte er es nicht kommen lassen (Gruen, 2000, S.12).

Hier haben wir es mit einem Menschen zu tun, der nicht weitergeben wollte, was ihm angetan wurde. Trotzdem wirkte die Identifikation unbewusst in ihm weiter. Seine Reaktion auf das Schreien von Kindern war ja die Reaktion des Vaters auf ihn als Säugling. Seine Wut war die Wut seines Vaters. Dessen Hass hatte er völlig als seinen eigenen verinnerlicht.

So wird das Eigene wie auch die vom Vater übernommene Verurteilung seines Schmerzes zum Fremden, um es dann außerhalb der Grenzen des eigenen Selbst zu bestrafen. Es ist nicht einfach, den Terror zu realisieren, der hinter all dem steht. Zu sehr haben wir alle gelernt, ihn zu verleugnen. Dieser Terror ist so groß, dass Menschen ihre Eltern trotz aller rationaler Kenntnisse nur so erleben können, wie diese es ihnen aufgetragen haben.

Auch Kurt Meyer durchlebte eine Erziehung, die sich dem Mythos der Stärke und der emotionalen Verhärtung verschrieben hatte. Sein Vater war der Panzergeneral der Waffen-SS Kurt Meyer. Meyers Bericht: „Gemeint ist, wenn der Kopf ab ist“ (1998) spiegelt mit großer Eindringlichkeit wider, wie schwierig es ist, sich der Wahrheit über Eltern zu nähern, die gehorsam durch Demütigung und Bestrafung erzwungen hatten. Kinder, die einen solchen Terror erlitten haben, müssen oft ein Leben lang ein Elternbild verteidigen, das diese als liebevoll, warmherzig und fürsorglich erscheinen lässt. Das nicht zu tun macht angst. Diese Angst ist so immens, dass man sie bereits abwehrt, bevor man sie überhaupt spüren kann. „Wir machten einen Spaziergang durch den Stadtpark in Hagen, in dem sich heute noch ein Kriegerdenkmal befindet, eingefasst von einem kreisrunden Mäuerchen. In das Denkmal waren die Namen der Gefallenen beider Weltkriege eingraviert und der übliche Satz: „Den gefallenen Söhnen“ oder so ähnlich… Ich war zwölf Jahre alt und kam auf die Idee, auf diesem Mäuerchen herumzuklettern. Ich stellte mir vor, dass du mit deinem Stock in der rechten Hand auf dem Weg gehen würdest und ich auf dem Mäuerchen ein bisschen neben dir laufen könnte. Wir wären beide gleich groß gewesen. Ich erinnere mich nicht mehr genau – ich weiß nicht, welche Hand du hochhobst, welche Backe du getroffen hast. Du hast mir eine runtergehauen, weil ich auf dem Mäuerchen des Kriegerdenkmals herumgelaufen bin. Ich war sehr beschämt, wir haben danach lange nicht miteinander gesprochen“ (S.21). Und trotzdem schreibt er an anderer Stelle: „Ich und der Vater sind eins!“ Und: „Ich habe… die Liebe meiner Eltern, der Freunde, der Familie nicht aufs Spiel setzen wollen“ (S. 239). „Ich erlebte Vertrauen und Verlässlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen auch durch deine Kameraden und Freunde!“ (S. 241, er spricht hier den Vater direkt an). Hier ist ein Mann, der wirklich mit sich gerungen hat, um einen Standpunkt zu seinem Vater zu finden, der in seinem Menschsein zutiefst versagt hatte. Er wusste um dessen Greueltaten und erkannte das Ausmaß seiner Verfehlungen. Trotzdem fällt es ihm ungeheuer schwer, sich dem Terror zu stellen, der ihm als Kind das Eigene nahm.

Der Ursprung des Gehorsams ist also in den Prozessen zu suchen, der das Eigene zum Fremden macht. Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen Gefühle und Wahrnehmungen auf. Wird ein Mensch im Verlauf seiner Identitätsentwicklung einmal in diese Richtung gezwungen, verläuft seine Entwicklung nach Gesetzen, die völlig anders sind als die, die das heute gängige psychologische Denken vorgibt. Das Festklammern an der Autorität wird dann zu einem Lebensgrundsatz. Obwohl man sie hasst, identifiziert man sich mit ihr. Die Unterdrückung des Eigenen löst Hass und auch Aggressionen aus, die sich aber nicht gegen den Unterdrücker richten dürfen, sondern an andere Opfer weitergegeben werden. Typisch für diese Entwicklung ist immer, dass das eigene Opfersein verleugnet wird. Denn der eigene Schmerz und das eigene Leid waren ja einmal Bestandteil dessen, was uns wertlos machte. So wird Opfersein zur unbewussten Basis für das Tätersein. Gleichzeitig wird der Gehorsam zur gesellschaftlichen Institution, mit der diese Krankheit, von der wir alle zu einem gewissen Grad betroffen sind, die wir aber nicht als Krankheit erkennen, weitergegeben. Diese pathologische Treue ist nicht nur ein Kennzeichen der Deutschen. Sie ist überall da zu finden, wo Gehorsam Kinder dazu zwingt, sich selbst und ihr Erleben zu verleugnen. Zwei Forschungsprojekte, die sich dem Thema der Autonomieentwicklung widmeten, haben gezeigt, dass die Weichen zum Menschlichsein oder zur Entfremdung schon früh gestellt werden. Helen Bluvol und Ann Roskam führten Studien (beide 1972) an einem amerikanischen Gymnasium durch. Sie untersuchten zwei Gruppen von Schülern – eine, die äußerst erfolgreich war, sich gehorsam den Ambitionen der Eltern anpasste, und eine andere, deren Leistungen zwar als genügend eingestuft werden konnte, die aber kein großes Interesse an Erfolg zeigten und keinem Druck zum Gehorsam, den Erwartungen der Eltern zu entsprechen, ausgesetzt waren. Die erste Gruppe zeichnete sich durch ein starkes Bedürfnis nach Bestätigung aus. Diese Schüler reagierten mit Angst, wenn sie den Eindruck hatten, von gängigen Verhaltensnormen abzuweichen. Diese Gruppe war auch unfähig, die Eltern als eigenständige, differenzierte Menschen wahrzunehmen. Die Schüler neigten dazu, nicht nur die Eltern, sondern auch andere Autoritätspersonen wie ihre Lehrer zu idealisieren. Die Gruppe der wenig erfolgsorientierten Schüler dagegen beschreibt die Eltern als reale Persönlichkeiten mit guten und schlechten Seiten. Idealisierungen waren ihnen fremd.

Bluvol und Roskam fanden noch etwas heraus: Die erfolgsorientierten Schüler, die ihre Eltern idealisierten, hatten eine starke Tendenz, ihre Mitschüler zu Unterlegenen zu machen. Nur dann empfanden sie sich als „autonom“. Hier sehen wir die Auswirkungen des Gehorsams. Die Gruppe, die sich im Hinblick auf Erfolg und allgemeines „Wohlverhalten“ den allgemeinen Normen unterordnete und somit am stärksten im System elterlich autoritärer Erwartungen gefangen war, fühlte sich unabhängig – und zwar dann, wenn sie andere niedermachen konnte. Das heißt: Wir erleben das Gefühl von Freiheit und Autonomie, wenn wir das Fremde im andern – und damit in uns selbst – bestrafen.

So kommt es zu zwei problematischen Fehlentwicklungen. Erstens: Im Falle der gehorsamen Leistungsorientierten wird Ehrgeiz verknüpft mit dem Prozess der Entfremdung. Ehrgeiz als ein „mit sich selbst ringen“ kann auch zum Transzendieren eigener Möglichkeiten führen. Wenn er jedoch auf die Bestätigung für gehorsames Verhalten abzielt, ist er ein Resultat der Entfremdung. Zweitens: „Autonomie“ kehrt sich bei dieser Entwicklung in eine Perversion um und bringt eine Verzerrung der Gefühlslage mit sich. Einen andern zu beherrschen und runterzumachen vermittelt dabei ein Gefühl des Freiseins, weil es von der Last des eigenen Opferseins befreit.

Wenn wir zum Gehorsam erzogen werden, ist der Fremde in uns das eigentliche Opfer unseres Selbst. Dieses Selbst wird verzerrt durch den Gehorsam, der es unmöglich macht, die Wahrheit des ganzen Vorgangs zu erkennen. Gehorsam, könnte man sagen, dient nicht nur dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen, sondern auch seine Taten zu verschleiern. Mit anderen Worten: Gehorsam untermauert Macht. Er macht es unmöglich, die angestaute Wut gegen jene zu richten, die für sie verantwortlich sind. Die Wut jedoch ist da, genauso wie der Hass auf das eigene Opfer, das man als fremd von sich weisen muss, um sich mit den Mächtigen zu arrangieren.

In dem Buch „Familie und Aggression“ veröffentlichte David Mark Mantell eine Studie, die er zur Einübung von Gewalt durchgeführt hatte. Mantell untersuchte 25 Soldaten der Green Berets, die sich freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet hatten. Diese US-Eliteeinheit wurde durch ihre besondere Härte und Grausamkeit im Vietnamkrieg bekannt. Die Daten und Interviews verglich Mantell mit denen von 25 Kriegsdienstverweigerern. Es stellte sich heraus, dass die Familiengeschichten der Green Berets von einer ausgesprochen autoritären, dem Gehorsam gewidmeten Erziehung geprägt waren – im Gegensatz zur Sozialisation der Vergleichsgruppe. Die Soldaten identifizierten sich stark mit dem Erziehungsstil ihrer Eltern. Nach außen waren sie unauffällige und erfolgreiche junge Männer. Ihr auffallender Gehorsam in der Familie steigerte sich im Dschungelkrieg zu einer blinden Befehlsunterwerfung. Ihnen fehlte jedes Gefühl von Scham, Schuld und Verantwortung für ihre mörderischen Verbrechen an Frauen, Kindern und alten Menschen. Aufschlussreich war auch, dass diese Soldaten eine Mutter erlebt hatten, die von ihren Kindern noch mehr Disziplin, Gehorsam, Konformität und unterwürfiges Verhalten gegenüber Erwachsenen verlangte als der Vater. Die Mütter wandten auch körperliche Strafen häufiger an als ihre Ehemänner. Nur bei zwei der 25 Soldaten war dies nicht der Fall. Das ist es, was Menschen zur Gewalttätigkeit treibt: Die fehlende Möglichkeit, eigene Bedürfnisse und Wahrnehmungen zum Kern der eigenen Identitätsentwicklungen zu machen. Ein 40jähriger Patient, Sohn eines gewalttätigen Nationalsozialisten und einer unterwürfigen Mutter, berichtete mir: „Ich habe Angst, meinen Gefühlen, Regungen und Impulsen zu trauen. Das wird negative Konsequenzen haben. Mein Vater sprach immer davon, dass man den eigenen Willen zerstören muss, um Gottes Willen und den eines Führers zu erfüllen. Man muss sich dem höheren Willen unterordnen. Der eigenen Wille ist schlecht und muss zerstört werden. Ich lebe in ständiger Angst, aber ich spüre den Terror meines Vaters wenig. Dass meine Mutter einmal dazwischenging, als mein Vater mich zu ermorden versuchte, darf ich gar nicht so sehen. Ich habe das immer damit abgetan, dass er mir ja nicht geschadet hat. Ich war vorhin empört, als Sie mich daran erinnerten, dass meine Mutter mir sagte, dass er mich beinahe tötete. Ich habe immer noch Angst, dass er mich umbringen könnte“. Wenden wir uns der inneren Problematik des Rechtsradikalen zu, die ja darin besteht, dass er durch den Gehorsam dazu gebracht wurde, sein eigenes Inneres zu verwerfen. Er lehnt sich in seiner Menschlichkeit ab und braucht deshalb den Andern, den Feind, um sich in diesem zu sehen und zu bekämpfen. Die Ideologie dieser Gewalttäter ist dieselbe, wie sie auch der Nazi-Ideologe Carl Schmitt vertrat: Man findet die eigene Gestalt beziehungsweise definiert sich selbst, indem man einen andersartigen Menschen, den Feind, sucht, findet und bekämpft.

Menschen, die ihr eigenes Selbst aufgeben mussten, um sich mit ihren Eltern zu arrangieren, suchen sich immer wieder in dem Fremden, der ja das eigene Selbst ist, das sie in der Gestalt des feindlichen Fremden bekämpfen müssen. Auf diesem Wege gelingt es dem Rechtsradikalen tatsächlich, seinen durch den Gehorsam verlorenen, verschmähten, abgetrennten Teil wiederzufinden und dann zu bestrafen. So gibt er weiter, was man ihm angetan hat. In der Bekämpfung des Feindes wird die Frage, wer oder wie man ist, negativ beantwortet. In der Gestalt des Feindes kann man des abgewiesenen Teils des Selbst, das man hätte werden können, habhaft werden und ihn erneut verwerfen. Dies resultiert in einer verdrehten Rache, bei der der Hass sich auf das Eigene richtet, das zum Feind wurde, weil es die lebensnotwendige Verbindung mit den Eltern bedrohte. Um sich auf diesem Wege vom verbotenen Eigenen zu „befreien“, beschwören solche Menschen – was Schmitt explizit tat – die „Rückhaltlosigkeit des Gehorsams“. Das ist teuflisch: Indem der Gehorsam zum Ideal erhoben wird, verfestigt man die eigene Versklavung, die im Selbstverrat jener Menschen endet, deren Identitätsbildung geschädigt ist: Unter dem Deckmantel einer Law-and-order-Gesellschaft, die Macht und Gehorsam glorifiziert, wird man zum freiwilligen Knecht einer im Kern faschistischen Ideologie. In dieser Psychose der Unterwerfung und der Gewalttätigkeit verkehrt sich der Terror der Kindheit in eine Tugend des Gehorsams, die fortan eigenständig das Eigene als Betrug verleugnet. So kämpfen diese Menschen zeit ihres Lebens gegen den Feind außerhalb ihrer selbst, sie begeben sich in einen dauernden Kriegszustand. Das Leben wird dann Krieg und Gewalt. Kinder, die nicht den Terror erlebt haben, der aus der Verwerfung ihres Eigenen entsteht, wachsen zu Menschen heran, die ihrer Umwelt positiv, voller Neugier und mit Wohlgefühl begegnen. Anders ist es, wenn die frühen Erlebnisse eines Säuglings und Kindes von Unterdrückung des Eigenen dominiert waren, da seine Gefühle und Wahrnehmungen nicht gebilligt wurden. Dann entwickelt das Kind eine Haltung zur Welt, die nicht auf Entgegenkommen, sondern auf Vermeidung und Abwehr basiert. Wut und Aggression werden zum mächtigen Kern des Daseins, wodurch sich das Gefühl, in einer bedrohlichen Welt zu leben, noch verstärkt. Die Wahrnehmung verengt sich. Anstatt in der Umgebung Anregungen, Entwicklungsmöglichkeiten und Anreize zur Kreativität zu erleben, richtet sich der Blick auf Gefahren. Abwehr wird so zum Kern des Überlebens. Der Mensch fühlt sich nicht zu Hause in der Welt. Anstatt Neugier zu wecken, wird das Fremde zu etwas, das Angst und Misstrauen erregt, weshalb alles, was neu und anders ist, abgewehrt wird. Solchen Menschen fällt es schwer zu unterscheiden, was vertrauenerweckend ist und was bedrohlich sein könnte. Diese Unfähigkeit zwingt sie, Veränderungen und Neues als Gefahr zu erleben und darauf mit Abwehr zu reagieren. Eine derartige Haltung zur Welt versetzt Kinder (und später auch die Erwachsenen) in einem permanenten, von hormonalen Veränderungen begleiteten Stresszustand, der es ihnen unmöglich macht, auf positive Signale des Lebens einzugehen. Wenn kindliche Bedürfnisse nicht ernst genommen werden, wenn Eltern einem Kind ihren Willen aufzwingen, weil sie zum Beispiel seine Ängste oder seine Traurigkeit als gegen sich selbst gerichtet empfinden, dann kommt es zu einer physiologischen Disregulation, da der dauernde Stress die hormonale Regulation konstant beeinträchtigt. Auf psychologischer Ebene heißt das: Das Kind fühlt sich noch hilfloser und empfindet noch mehr Stress. Das wiederum weckt Wut und gewalttätige Gefühle, wodurch Bösartigkeit und Sadismus verstärkt werden. Mantell hatte deutlich gemacht, dass Kinder in diesem Sozialisationsprozess weder von Seiten der Väter noch von Seiten der Mütter Geborgenheit und Wärme erlebten. Die Ergebnisse einer bereits 1950 veröffentlichten Studie von Henry Dicks lassen ähnliche Schlüsse zu: Dicks befragte 1000 deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. 11 % der Gefangenen erwiesen sich als aktive Nazis, 25 % waren gläubige Nazis, die aber Vorbehalte hatten. Diese beiden Gruppen, also 36 % der Befragten, zeigten im vergleich zu den Nicht-Nazis eine signifikante Ablehnung von Zärtlichkeit. In ihrer Beziehung zur Mutter hatten Sie keine Zärtlichkeit erfahren. Zärtlichkeitsgefühle waren verboten gewesen, das Bedürfnis nach Liebe und Wärme war mit dem Tabu belegt und musste unterdrückt werden. In den klinischen Interviews, die Dicks durchführte, zeigten die überzeugten Nazis eine starke Identifikation mit den autoritären, bestrafenden und auf Gehorsam pochenden Vätern. Zweifel und Kritik an ihnen gab es nicht.

Die Statistiken von Dicks zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den vor kurzem durch die FriedrichEbert-Stiftung erhobenen Daten über Rechtsradikalismus und Gewalt. Zwei Drittel der Deutschen glauben heute noch, Deutschland brauche eine starke Hand, und nur ein Politiker, der hart durchgreife und eine starke Partei im Rücken habe, bekäme die aktuellen Probleme in den Griff. Die Studie zeigte auch, dass diese Menschen Leid und Not als Schwäche abtun, kein Mitgefühl empfinden.

Der englische Pädiater und Psychoanalytiker Donald Winnicott stellte schon Anfang der fünfziger Jahre die These auf, eine demokratische Gesellschaft brauche emotional reife Mitglieder, um zu funktionieren. Gehorsame Erziehung steht einer solchen Reife nicht nur im Weg, sie entzieht den Menschen auch die Grundlage dafür. Emotionale Reife hat ihren Ursprung in der Fähigkeit des Mitfühlens, der Empathie, die jedes Kind schon im Mutterleib entwickelt. Diese Fähigkeit kann durch autoritäre Erziehung überlagert und sogar ganz zunichte werden. MacLean, forschender Neurologe an der Rockefeller University, zeigte bei seinen Studien über das menschliche Gehirn bereits 1967 nicht nur, dass empathische Empfindungen Vorbedingung für ein Gefühl persönlicher Identität sind. Er wies auch nach, dass die empathischen Verdrahtungen des sympathischen Nervensystems während der Kindheit stimuliert werden müssen, da sie andernfalls aufhören zu funktionieren. Eine Erziehung, die auf Gehorsam pocht, hemmt oder zerstört empathische Fähigkeiten. Da eine Entwicklung, die auf der dem Menschen eigenen Empathie beruht, unmöglich gemacht wird, führt eine solche Erziehung gleichzeitig zu einer Identität, die eine Identifikation mit Autoritäten zum Inhalt hat. Solche Menschen können keine wahrhaft eigene Identität entwickeln; ihre „falsche“ Identität ist nur Simulation, die auf einer Übernahme dessen beruht, was ihnen von der autoritären Erziehungsperson vorgegeben wird. Identität ist hier ein Komplex von Verhaltensregeln sowie einem grundlegenden Hass, den jede Unterwerfung mit sich bringt.

So entwickelt sich eine Persönlichkeitsstruktur, die keine eigene Identität als Kern hat, aber voll destruktiver Gewalt steckt. Winnicott bezeichnete solche Menschen als „anti-sozial“, als Personen, die „ungesund und unreif“ sind, da ihre Identifikation mit dem Aggressor eine Selbst-Entdeckung verhindert. Es sind Menschen ohne Sinn für den Rahmen unserer Existenz, ohne Gefühl und Bild für unser Menschsein, sie erkennen die Form des Menschen, haben aber kein Erleben seiner wahren Gefühle. Nach Winnicott resultiert daraus eine Vermassungstendenz, die sich gegen die Individualität des einzelnen richtet. „Antisozial“ im Sinne von Winnicott ist gleichbedeutend mit einer antidemokratischen Haltung, die ihre Wurzeln im tiefsten Innern hat. Bei solchen Menschen finden wir eine Fehlentwicklung von Menschlichkeit, da sie nicht die Chance hatten, das innere Potential menschlicher Möglichkeiten inklusive der eigenen Identität zu entfalten. Das Ergebnis sind Menschen ohne eigene Identität, die jedoch in dem Glauben leben, eine solche Identität zu besitzen, weil sie Gehorsam mit freien Entscheidungen verwechseln. Sie sind, wie Wole Soyinka es in seinem Buch „Die Last des Erinnerns“ beschreibt, nie Herr ihrer Existenz gewesen, sie haben nie ihr eigenes Schicksal bestimmt. Sie sind Sklaven, die ständig Bücklinge machen, sagt Soyinka, da ihr Selbst unsichtbar geworden ist. Dabei halten sie sich selbst für unverwundbar, weil sie andere erniedrigen, peinigen und zerstören können. Sie haben, um Balints Terminologie zu gebrauchen einen „basic fault“, einen grundsätzlichen Defekt ihres Charakters, weil sie kein eigenes Inneres entwickeln konnten. Dadurch fühlen sie sich permanent von der Auflösung ihres Selbst bedroht. Nur die Projektion ihres Hasses und ihrer gewaltigen Aggressionen auf andere können sie sich als eine persönliche Einheit, als aufrecht gehend erleben. Unsere Kultur fördert leider diese Vorgänge, z.B. allgemein anerkanntes Lernziel ist der Umgang mit der Wirklichkeit, aber lernenswert ist nur das, was als Wirklichkeit gilt, so dass Lernen und Wirklichkeit zu einem einheitlichen Ziel verschmelzen. Ein Teil dieser Wirklichkeit ist jedoch die Idealisierung der Mächtigen, so dass jede Regung, mit den eigenen Augen zu sehen, von vornherein als Versagen abgetan wird. Lernen bedeute üblicherweise, schreibt Heinrich Jacoby in Jenseits von „Begabt“ und „Unbegabt“ (1987) – „möglichst schnell zum Ziel zu gelangen, möglichst wenig Fehler zu machen beziehungsweise die „richtigen“ Antworten zur Verfügung zu haben“. Doch Lernen sollte gerade das nicht sein, Lernen sollte vielmehr mit der Bereitschaft zu tun haben, sich dem Leben zuzuwenden. Jacoby charakterisiert dieses Lernen als `Einarbeiten´, als Aufarbeiten durch eigenes Erfahren und Entdecken. Dadurch lernt ein Kind nicht nur zu erkennen, was richtig ist, sondern vor allem auch, wie das Richtige zustande kommt und warum gerade dieses das Richtige ist.

Unserer gängigen Vorstellung zufolge sollen Kinder die Wirklichkeit `erlernen´, ohne sie jedoch zuvor selbst entdeckt zu haben. Ein solches Lernen ist ein erzwungenes, ein Lernen, das auf intensiven Reizen basiert, die sich durch die Umkehr ein positives Vorzeichen angeeignet haben. Lernen heißt hier, den Gehorsam gegenüber der Autorität zu zementieren, wobei Kreativität verloren geht – was wiederum Erstaunen darüber erweckt, dass Kinder in ihrem Denken steril werden. An Stelle von Kreativität tritt vorprogrammiertes Denken.

Heutzutage vollzieht sich dieser Vorgang – auf verschleierte subtile Art: Nicht der erzwungene Gehorsam, die Bestrafung der alten Schule, soll Lernen bewirken, sondern es soll sich über Belohnung vollziehen.
Belohnung als Erziehungsmittel lässt uns nämlich die Illusion aufrechterhalten, das Kind könne sich frei entscheiden, könne seinen eigenen Weg finden. Doch die Entdeckung und Entfaltung seines Selbst wird dadurch keineswegs erleichtert. Nur die Erziehenden fühlen sich besser, da sie glauben, mit dem Prinzip Belohnung seien alle Entscheidungen dem freien Willen des Kindes überlassen, es werde nicht von ihnen genötigt, beherrscht. Doch das Prinzip Belohnung ist nichts anderes als eine raffinierte Verhüllung des Drucks zum Erfolg. Und durch diesen Erfolgsdruck wird das Selbst vorprogrammiert. Der Soziologe Richard Sennett sagte kürzlich in einem Interview über die Kindererziehung, man tue so, als würde alles für das Wohl der Kinder getan. Aber es geht immer nur: „Du kannst es! Du schaffst es! Nie darum, obwohl man das auch will.“ Es ist eine seelische Art, wie Eltern ein Kind auf ihre Spur bringen. Das Gewaltmittel ist dann nicht eine körperliche Bestrafung sondern eine seelische. Das Kind wird dazu gebracht, sich als Verräter an der gemeinsamen Sache zu fühlen, wenn es nicht mitmacht. Das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, wird so zum Thema für Kinder und Erwachsene.

All dies geht, wie gesagt, äußerst subtil vor sich. Ein Vergleich mit einer anderen Kultur mag dies veranschaulichen. Eibl-Eibesfeldt (1993), Verhaltensforscher am Max-Planck-Institut für Völkerkunde, filmte folgende Situation zwischen einer Eipo-Mutter in West Neuguinea und ihren beiden kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Der Junge isst ein Tarostück, das Mädchen greift danach, worauf beide zu schreien anfangen. Die Mutter kommt herbei, und beide Kinder lächeln sie an. Der Junge reicht ihr von sich aus das Tarostück, sie bricht es in zwei Teile und gibt beide dem Jungen zurück. Er bemerkt erstaunt, dass er jetzt zwei Stücke hat, und nachdem er beide einen Moment lang betrachtet hat, gibt er eines seiner Schwester. Wie würden wir uns als Eltern in einer ähnlichen Situation verhalten? Kämen wir uns nicht vorbildlich vor, wenn wir das Stückchen Brot brechen und an die Kinder verteilen würden, um ihnen auf diese Weise das Teilen beizubringen? Wer von uns hätte das dem Kind überlassen? Wir trauen einem Kind von zwei oder drei Jahren gar nicht zu, dass es so etwas begreift oder sogar selbst tut. So handeln wir lieber entsprechend den Vorurteilen, die wir durch unseren Gehorsam erlernt haben, und schränken damit unsere Wirklichkeit ein. Und die derart verformte „Wirklichkeit“ der menschlichen „Natur“ wird dadurch permanent weitergegeben.

Wir missachten die Möglichkeiten des Kindes, weil wir sie gar nicht erst erkennen, und wir missachten ebenfalls seine wirklichen Grenzen. Sie hören damit auf zu existieren. Anstatt aus sich heraus Verhalten initiieren zu können, ordnet sich das Kind dem Willen der Autorität unter.

Der Gehorsam macht es uns unmöglich die kreativen Kräfte in einem Lebewesen zu erkennen.

Die Wahl ist immer zwischen dem Eigenen zu vertrauen oder es verwerfen. Aber nur das Eigene führt ein Kind, später Erwachsener, dazu seine Phantasie und Kreativität zur Entfaltung zu bringen.

„Gehorsam“, schreibt Peter Brückner in Zur Pathologie des Gehorsams´, "erspart Unlust und verleiht eine wenn auch vom Wohlleben der Mächtigen abhängige Sicherheit. Erziehung sollte deshalb lehren, wie man Unsicherheit erträgt..." (S.110). A. Mitcherlich schrieb vom Triebgehorsam und vom Lerngehorsam. Jedoch, so Brückner, wandern soziale Forderungen als regulative Mechanismen in das Innere des Heranwachsenden und werden so zur psychischen Struktur, gar zumCharakter´, und vertreten die Gesellschaft gegenüber den eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnissen. Die Voraussetzung für eine Erziehung, die dem Menschen Freiheit gewährt, ist das Erlebnis von Nähe. Nähe gedeiht aber nicht wenn Gehorsam das Ziel ist. Um Nähe gedeihen zu lassen „…müssen (wir) Kinder verstehen, ehe wir ihnen Lösungen für soziale Situationen anbieten. Lösungen, die nicht kurzweg von irgendwelchen tradierten Ordnungsvorstellungen abgeleitet wurden, und deren Legitimität dann nur darin besteht, dass die Erwachsenen sie als ihr `Gewissen´ idealisieren“ (S.108).

Wenn das aber an der Tagesordnung steht, dann entwickelt sich eine Persönlichkeitsstruktur, die keine eigene Identität als Kern hat, aber voller destruktiver Gewalt steckt.

Das zu vermeiden ist unsere Aufgabe, sonst kommt zustande, was der englische Dichter Edward Young im 18. Jahrhundert schon befürchtete. Er schrieb: Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.

Seite -9- A. Gruen „Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität“ Vortrag im Rahmen der 52. Lindauer Psychotherapiewochen 2002 (www.Lptw.de)-
Literatur:

Adorno, T.W.: Studien zum autoritären Charakter, Suhrkamp: Frankfurt, 1955.

Balint, M.: The Basic Fault, Tavistok: London, 1968.

Bluvol, H.: Differences in Patterns of Autonomy in Achieving and Underachieving Adolescent Boys, Diss. The City University of New York, 1972.

Brückner, P.: Zur Pathologie des Gehorsams, in: Einführung in pädagogisches Sehen und Denken, Hrsg.: Andreas Flitner und Hans Scheuerl, Piper: München, 1976.

Chamberlain, S.: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, Psychosozial: Giessen, 1997.

Dicks, H.V.: Personality Traits and National Socialist Ideology: A Wartime Study of German Prosoners of War, in: Human Relations, Bd. III, 1950.

Eibl-Eibesfeldt: Sein Schlüssel zur Verhaltensforschung, Hrsg.: v.W. Schiefenhövel, J. Uher und R. Krell. München: Realis 1970 (170).

Ferenczi, S.: Sprachverwirrungen zwischen den Erwachsenen und dem Kind (1932), in: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 3, Ullstein: Berlin, 1984.

Freud, A.: Das Ich und die Abwehrmechanismen, in: Die Schriften der Anna Freud, Band I, Fischer: Frankfurt, 1987.

Friedrich-Ebert-Stiftung: starke Hand gesucht, G. Hoffmann, in: Die Zeit, 20, 12, 2000.

Fromm, E.: Die Furcht vor der Freiheit, Steinberg: Zürich, 1941.

Gruen, A.: Autonomy and Identification: The Paradox of their Opposition, in International Journal of Psycho-Analysis, 49.4 1968.

Gruen, A.: Der Verrat am selbst, (1984), dtv: München 1986.

Gruen, A.: Der Wahnsinn der Normalität: Realismus als Krankheit; eine Theorie der menschlichen Destruktivität, Kösel: München, 1987.

Gruen, A.: Der Verlust des Mitgefühls, München: dtv. 1997.

Gruen, A.: Reductionistic Biological Thinking and the Denial of Experience and Pain in Developmental Theories, in: Journal of Humanistic Psychology, 38, 2, 1998.

Gruen, A.: Ein früher Abschied; Objektbeziehungen und psychosomatische Hintergründe beim Plötzlichen Kindstod, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 1999.

Gruen, A: Der Fremde in uns, Klett-Cotta: Stuttgart, 2000.

Gruen, A.: Der Kampf um die Demokratie: Der Extremismus, die Gewalt und der Terror, Klett-Cotta: Stuttgart, 2002

Gruen, A.: Verratene Liebe – Falsche Götter, Klett-Cotta: Stuttgart, 2003

Jacoby, H.: Jenseits von „Begabt“ und „Unbegabt“, Christians: Hamburg, 1987.

MacLean, P.D.: The Brain in Relation to Empathy and Medical Education, in: Journal of Nervous and Mental Disease, 144, 1967.

Seite -10- A. Gruen „Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität“ Vortrag im Rahmen der 52. Lindauer Psychotherapiewochen 2002 (www.Lptw.de)-
Mantell, D.M.: Familie und Aggression, Fischer: Frankfurt, 1972.

Meyer, K.: Gemeint ist, wenn der Kopf ab ist, Herder: Freiburg, 1998.

Milgram, S.: Behavioral Study of Obedience, in: Journal of Abnormal Psychology, 67, 1963.

Milgram, S.: Obedience to Authority: An Experimental View, Harper: New York, 1975.

Roskam, A.: Patterns of Autonomy in high Achieving Adolescent Girls who differ in Need for Approval, Diss. The City University of New York, 1972.

Schaeffer, F.: Pathologische Treue als pathogenetisches Prinzip bei schweren körperlichen Erkrankungen Ein kasuistischer Beitrag zur Dermatomyositis, in Der Nervenarzt, 32, 10, 1961.

Schmitt, C.: Der Begriff des Politischen, in: Archive für Sozialpolitik, Bd. 58, 1. September 1927. Meier, H.: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Metzler: Stuttgart 1994.

Silverberg, W.V.: The schizoid maneuver, in: Psychiatry, 10, 1947.

Spence, J.: In China´s Gulag, The New York Review of Brooks, August 10, 1996.

Soyinka, W.: The Man Died, Harper: New York, 1972.

Soyinka, W.: Die Last des Erinnerns, Patmos: Düsseldorf, 2001. (Siehe auch: A. Gruen, Die Trauer der Täter, Besprechung der „Last des Erinnerns“, Die Presse (Wien) 1.9.2001.)

Timmermann, J.: Wir brüllten nach innen. Folter in der Diktatur heute, Fischer: Frankfurt, 1982.

Welch, M.: Epinephrine Dysfunction in PTSD, Major Depression, in SIDS, PDD and in Neurodegeneration, Columbia University Medical School, 2001, unpublished. Summary: Virtually all stresses faced by the perinate activate the epinephrine neurotransmitter network. High stress dysregulates the infant´s basal and reactive levels of stress hormone, especially epinephrine. The metabolic demands of unabated stress will, over time, incapacitate the epiphrenine neuron´s ability to synthesize its tertiary amine. Included in the epiphrenine stress adaption network is the visceral thalamus, and ist two-wayreverbaratory network with the viscera, which, when effectively conditioned by maternal nurturing, results in well modulated coping response to stress: We hypothesize that patients suffer from disorders …only if they failed to develop adequate coping responses perinatally.

Winnicot, D.W.: Some Thoughts on the Meaning of the Word Democracy, in: Human Realtions, Bd. III,