Der Hass der Ungeliebten
Im Film „Systemsprenger“ bringt ein neunjähriges Mädchen das Jugendhilfesystem an die Grenzen — aus traumapsychologischer Sicht gäbe es Lösungen.
von Franz Ruppert
Im Herbst 2019 kam der Film „Systemsprenger“ von der Regisseurin Nora Fingscheidt in die Kinos. Das Mädchen Benni verstört darin ihre Umgebung durch scheinbar grundlose Wutausbrüche und ungebändigte Gewalt. Alle Therapieversuche laufen ins Leere. Selbst ein waldpädagogisches Experiment mit Holzhacken und Schreien bringt nur kurzfristige Erleichterung. Dies ist nicht anders zu erwarten, solange sich niemand an die wahre Ursache des Traumas heranwagt: das Gefühl von der eigenen Mutter abgelehnt und nicht geliebt zu werden. Um hier zu helfen, müssen sich Therapeuten auch ihren eigenen verdrängten Gefühlen stellen. Der Autor, Professor der Psychologie und Traumaspezialist, analysiert die Geschichte aus wissenschaftlicher Sicht.
Im Film wird ein neunjähriges Mädchen namens Benni gezeigt, das von einer Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung zur nächsten weitergereicht wird. Das immer wieder per Notarzteinsatz in der Psychiatrie landet. Für das vom Jugendamt Pflegemütter, Heim- und Wohngruppenaufenthalte und intensivpädagogische Betreuungen organisiert werden. Trotz allem rastet Benni immer wieder voll von abgrundtiefem Hass und grenzenloser Wut aus und verletzt sich und andere schwer. Sie zeigt dann keinerlei Schmerzempfinden oder Mitgefühl.
Es wird an vielen Stellen deutlich: Dieses Mädchen will im Grunde nur eines — zurück zu seiner Mama. Warum es von seiner Mutter durch Jugendamt und Polizei getrennt wurde, wird im Film nicht aufgeklärt. Ebenso wenig, wer sein Vater ist und unter welchen Umständen seine Mutter von welchen Männern noch zwei Kinder bekommen hat. Bennis Mutter wird einerseits als eine ihr Kind liebende und andererseits als total verunsicherte Frau dargestellt, die völlig von diesem Kind überfordert ist. Sie scheint auch eher abhängig von Männerbeziehungen zu sein als wirklich an ihren Kindern interessiert. Warum das so ist, welche eigene Kindheitsgeschichte diese Mutter hat, wird im Film an keiner Stelle thematisiert.
Alle Versuche Bennis, einen emotionalen Kontakt zu Menschen im Hilfesystem aufzubauen, werden von diesen über kurz oder lang abgewehrt. Das Entstehen einer emotionalen Bindung wird von einer Psychiaterin sogar als Ausschlusskriterium für einen weiteren Aufenthalt in einer Einrichtung gesehen. Das Kind soll — trotz deren massiver Nebenwirkungen — gehorsam seine Medikamente schlucken, es soll sich brav an die Regeln der Einrichtungen halten. Dann bekommt es dafür Belohnungspunkte, die es zum Beispiel in Fernsehstunden einlösen darf. Es soll in die Schule gehen und ein ganz normales Kind werden. Nichts davon funktioniert aber auf Dauer.
Den Konflikt offen thematisieren
Es gibt im Film einige Szenen, bei denen es möglich gewesen wäre, den emotionalen Konflikt des Kindes in Bezug auf seine Mutter offen zu thematisieren. Es hätte ihm geholfen werden können, seine kindlichen Bindungsbedürfnisse an seine — aus meiner Sicht deutlich traumatisierte — Mutter in den Blick zu nehmen, um diesen emotionalen Kernkonflikt Schritt für Schritt aufzuarbeiten.
Zum Beispiel als Benni sich liebevoll um das Kind ihres Schulbegleiters Micha kümmert. Dieser Säugling darf ihr sogar ins Gesicht fassen, obwohl das nach Aussagen der Jugendamtsmitarbeiterin niemand machen dürfe, weil Benni als Säugling eine nasse Windel auf ihr Gesicht gedrückt worden sei. Hier hätte das nie gestillte Bedürfnis Bennis, als Säugling von ihrer Mama liebevoll in den Arm genommen zu werden, thematisiert werden können. Kinder reinszenieren ihre traumatischen Wunden, sie können sie nicht verbalisieren. Das sollten Pädagogen wissen. Dann würden sie selbst in solchen Situationen nicht in Stress geraten und durch ihre Reaktionen die Situation eskalieren.
Das im Film dargestellte Kinder- und Jugendhilfesystem versteht den Kern des Problems von Benni jedoch nicht — ihre vergeblichen Versuche, sich an seine traumatisierte Mutter zu binden, beziehungsweise bereits zutiefst mit ihr emotional verstrickt zu sein. Dieses System ist selbst in einem unlösbaren Widerspruch gefangen: Einerseits trennt es Kinder wie Benni mit dem Argument der Kindeswohlgefährdung von seinen Müttern, andererseits ist es in der Mutterideologie gefangen, dass jede Mutter im Grunde ihres Herzens doch ihr Kind lieben würde und die Mutter für das Kind durch niemanden ersetzbar wäre.
Dass Frauen, die selbst früh traumatisiert wurden, nur biologisch, aber nicht psychisch Mutter werden, und dann nur aus ihren Trauma-Überlebensstrategien heraus als Mutter handeln — dafür hat es kein Konzept.
Man hofft stattdessen, dass die Mütter eines Tages einen Gesinnungswandel durchleben und dann mit ihrem Kind erzieherisch gut umgehen.
Weil das trotz aller Geduld mit solchen traumatisierten Müttern nicht funktioniert, werden Kinder wie Benni zum Versuchsobjekt kreativer Einfälle von Psychiatern, Sozialpädagogen und Erziehern. Sie probieren, nachdem die vermeintlichen Kinderpillen nicht wirken, Medikamente aus, die eigentlich nur für Erwachsene gedacht und zugelassen sind. Sie machen Herz- und Gehirnscans. Sie veranstalten einen dreiwöchigen Abenteueraufenthalt in einer Waldhütte ohne Strom und fließendes Wasser. Sie starten einen neuen Versuch mit einer Pflegemutter und so weiter.
Der Einfall, das Mädchen schließlich mit einem männlichen Erzieher zu einer intensivpädagogischen Maßnahme nach Kenia zu schicken, setzt dem pseudoprofessionellen Versuchs- und Irrtum-Spiel die Krone auf: Wir schicken das Kind jetzt in die Wüste, weil wir mit ihm hier in Deutschland nicht zurechtkommen. Logischerweise macht das Kind dies dann nicht mit, weil es sonst keine Chance mehr hat, sich wie zuvor durch das Ausbrechen aus den diversen Hilfseinrichtungen aus eigener Kraft auf den Weg zu seiner Mutter zu machen.
Bemerkenswert an diesem Film ist auch, wie die einzelnen Vertreter des Hilfesystems durch den Kontakt mit Benni an ihre persönlichen Grenzen kommen. Sie lassen zumindest für kurze Momente ihre professionellen Masken des „Alles wird gut!“ und „Wir machen alles ganz schmerzfrei!“ fallen. Es wird sichtbar, dass sie vermutlich am gleichen Thema leiden wie dieses Kind: vernachlässigt worden zu sein von den eigenen Eltern. Sie haben es aber geschafft, ihre abgrundtiefen Ängste, Wut- und Schamgefühle zu unterdrücken und nach außen hin souverän und stark zu wirken. Sie möchten daher, dass Benni das auch lernt und ihre Traumaüberlebensstrategien kopiert. „Lernen am Modell“ nennt das die Verhaltenspsychologie.
Traumata aufarbeiten
Was wäre also stattdessen zu tun? Statt auf Symptombekämpfung und pharmakologische oder Verhaltensänderungslösungen zu setzen, müsste das Kernproblem in den Mittelpunkt gestellt werden: die traumatisierte Bindung des Kindes zu seiner Mutter. Einerseits ist bei der Mutter anzusetzen, damit diese zu sich kommt und ihren Selbstverlust — ich nenne das „Trauma der Identität“ — mit all seinen Folgen aufarbeitet. Dann könnte sie zu ihrem Kind eine eindeutige Beziehung herstellen. Sie würde dem Kind gegebenenfalls ehrlich sagen können: Ich wollte dich nicht, du warst mir von Anfang an zu viel.
Andererseits müsste dem Kind geholfen werden, eine solche für jedes Kind zutiefst schmerzhafte Realität an sich heranzulassen, seine Liebesillusionen in Bezug auf seine Mutter zu erkennen und von diesen loszulassen. Es könnte sein existenzielles Bedürfnis nach einem liebevollen Körperkontakt mit seiner Mutter als etwas ganz Natürliches annehmen und begreifen, dass es nicht selbst daran schuld ist, dass seine Mutter ihm das verwehrt. Es müsste ihm liebe- und verständnisvoll geholfen werden, Zugang zu den abgespaltenen Anteilen seiner Psyche zu bekommen, die in der Regel schon vorgeburtlich entstanden sind und durch Geburtsprozesse und traumatisierende Vernachlässigungs- und Gewalterfahrungen im Säuglingsalter noch vermehrt wurden.
Benni könnte dann den unter ihrer Wut vergrabenen Ur-Schmerz zulassen, dadurch zu sich selbst finden und sich selbst entdecken. Dann hätte sie auch kein Motiv mehr, den Schmerz, der ihr zugefügt wird, aus Rache anderen zuzufügen. Sie hätte dann Kontrolle über ihre eigenen Gefühle, statt danach zu streben, möglichst nichts mehr zu fühlen, und dadurch anderen, die noch Schmerz fühlen, scheinbar überlegen zu sein.
Das alles kann nicht allein durch Reden bewirkt werden, dazu braucht es auch Methoden, die einem Kind selbst Zugang zu den unbewussten Bereichen seiner Psyche ermöglichen. Diese nonverbalen Methoden könnten auch offenlegen, inwiefern sich in Bennis Hass eventuell auch noch eine Identifikation mit einem männlichen Täter widerspiegelt.
Was dieser Film auch deutlich zeigt:
Wut und Hass verschwinden nicht, wenn sie in einem pädagogisch geschützten Rahmen ausgelebt werden — durch Holzhacken, Bäume umstoßen, Boxen oder Schreien. Das führt höchstens zu kurzfristigen Entlastungen und Scheinerfolgen an der falschen Stelle.
Weil die Ursache fortbesteht, also die Wut und der Hass auf die eigene Mutter, die einen nicht will, liebt und schützt, erneuern sich diese Gefühle immer wieder.
Weil bei den meisten Kindern in dieser Lage nach wie vor die Illusion besteht, eines Tages doch von ihrer Mutter geliebt zu werden, wird diese Wut nur selten direkt auf die eigene Mutter gerichtet. Stattdessen müssen völlig Unschuldige als Blitzableiter herhalten. Diese Form von Wut ist auch kein Ausdruck von Lebenskraft, sondern das sinnlose Anheizen von destruktiven Beziehungsspiralen, in denen Menschen wie Benni gefangen sind und die dadurch dann auch ihr eigenes Leben zerstören. Solch ein Mensch sprengt nicht „das System“. Er jagt sich am Ende nur selbst in die Luft und reißt wahllos andere mit in seinen Abgrund, wie es etwa die Beispiele von Amokläufen an Schulen zeigen.
Ein Hilfesystem, das diesen Namen verdient, kann erkennen, warum Mütter wie auch ihre Kinder psychisch gespalten und in ihren Trauma-Überlebensmechanismen hilflos gefangen sind. Doch dafür müssten auch die Helfer bereit sein, sich selbst mit ihren frühen Traumata zu befassen und ihre eigenen psychischen Spaltungen zu realisieren. Das wird zunächst schmerzhaft für sie sein, erspart ihnen jedoch danach die Überforderung und Ratlosigkeit im Umgang mit den traumatisierten Kindern, die ihnen anvertraut werden. So muss dieses ganze Hilfesystem dann auch nicht gesprengt, sondern es kann bewusst und empathisch aus seiner Trauma-Blindheit und Gefühlsverdrängung befreit werden.