Im Spiegel der anderen erkennen wir uns selbst. Exklusivabdruck aus „Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist“.
von Kerstin Chavent
Wir erkennen uns selbst nicht ohne die anderen. Über die Begegnungen mit anderen Menschen erfahren wir, wer wir sind. Sie reflektieren uns in unserer Gesamtheit, mit unseren hellen und dunklen Seiten, mit dem, was wir von uns zeigen wollen und mit dem, was wir versuchen zu verbergen.
Die Familie steht uns nun bei unserem Weg zu uns selbst nicht mehr im Wege. Doch da befindet sich eine Menge anderer Menschen, die wir uns mehr oder weniger ausgesucht haben. Viele davon erscheinen uns fremd, suspekt. Mit verschlossener Miene sitzen wir uns in den öffentlichen Transportmitteln gegenüber, genervt drängeln wir uns in der Menge aneinander vorbei, teilnahmslos stehen wir hintereinander in der Schlange und passen darauf auf, dass sich keiner vordrängelt.
Die anderen sind verdächtig und wollen uns potenziell nichts Gutes. Sie nehmen uns den Parkplatz oder die Arbeit weg. Sie verstehen uns nicht. Sie provozieren oder langweilen uns. Wie einfach wäre das Leben ohne nervige Nachbarn, meckernde Kollegen und schlechte Autofahrer! Immer wieder werden wir mit diesen Idioten konfrontiert. Es ist wie verhext: Kaum lässt uns einer halbwegs in Ruhe, steht schon der nächste da und macht uns das Leben schwer.
Da bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, als uns in unsere virtuellen Gemeinschaften zurückzuziehen. Mit einem Klick hat man ein paar neue Freunde mehr, die wenigstens das liken, was man selbst auch likt und die sich sogar dafür interessieren, was man gerade Belangloses macht. Und wenn man einander überdrüssig geworden ist, ist man sich mit einem Klick auch schnell wieder los.
Leider verlernen wir dabei, mit unseren Nächsten aus Fleisch und Blut zu kommunizieren und auch dann, wenn wir gemeinsam unter einem Dach leben, bleiben wir uns oft fremd. Selbst hier trauen wir einander nicht über den Weg. Wer sagt schon zu seinem Partner: „Ich fühle mich heute so klein und verletzlich. Nimm mich bitte einfach mal in die Arme.“ Stattdessen schleudern wir ihm entgegen: „Immer machst du …! Nie hast du …!“ Wer erzählt schon seinen Liebsten von seinen Zweifeln und Ängsten und versucht nicht, sie hinter guter oder schlechter Laune, geschäftigem Treiben oder einer der vielen Masken zu verstecken, die wir so oft aufsetzen, dass wir oft gar nicht mehr spüren, wie sehr sie drücken?
Meistens ist uns ja selbst nicht klar, wie wir uns eigentlich fühlen und wie es uns gerade wirklich geht. Wie könnten wir auch? Wir sind ja die meiste Zeit durch irgendetwas abgelenkt und damit beschäftigt, möglichst keine Leere entstehen zu lassen.
Wer weiß schon, wer er ist, abgesehen von dem, was im Personalausweis oder im Profil der virtuellen Netzwerke steht? Wir sind uns selbst oft fremd. Doch wie könnte ich die anderen erkennen und mich ihnen nahe fühlen, wenn ich mich selbst nicht erkenne und mir nicht nahe bin? Wenn ich nicht einmal weiß, wer ich bin, wie kann ich dann glauben, ich wüsste es von den anderen? Zeigen mir meine Beziehungen dann nicht vor allem, wie nah oder fern ich mir bin? Reflektieren sie nicht das Verhältnis, das wir zu uns selbst haben?
Unsere Begegnungen zeigen uns, wer wir sind. Über sie erkennen wir uns selbst in unserer Ganzheit, denn sie spiegeln nicht nur das, was wir sein wollen, sondern auch das, was wir nicht sein wollen. Jede Begegnung bringt bestimmte Saiten in uns zum Klingen: Freude, Anspannung, Gereiztheit, … Die Gefühle, die die Begegnungen in uns auslösen, waren vorher schon da. Sie waren uns nur nicht bewusst. Kein Einfluss von außen kann etwas in uns zum Schwingen zu bringen, was innen nicht existiert. Es sind also nicht die anderen, die uns wütend oder traurig machen; sie berühren lediglich die entsprechenden Saiten in uns.
Wenn mich also das Verhalten eines anderen mir gegenüber zum Beispiel wütend macht, dann bedeutet das, dass er die Saite „Wut“ in mir berührt. Wenn mich eine Begegnung traurig macht, dann berührt sie die Saite „Trauer“. Im Grunde genommen ist es also gar nicht der andere, der mich „wütend“ oder „traurig“ macht, er bringt nur die Wut oder die Trauer, die ohnehin schon da sind, in mir in Bewegung. Anstatt also zu sagen: „Du machst mich wütend“, müsste es eigentlich heißen: „Ich spüre, wie du meine Wut berührst“.
Der Unterschied mag auf den ersten Blick vollkommen unbedeutend erscheinen — doch auf den zweiten Blick hängt der Frieden in der Welt davon ab! Denn wenn wir es schaffen, von der Aussage „Du bist schuld“, also von Anklagen, Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen zu der Erkenntnis „Ich spüre in mir“ zu kommen, dann haben wir einen Meilenstein erreicht, ab dem ein völlig neues Miteinander entstehen kann. Wenn wir diesen Schritt machen, der so winzig klein erscheint und doch gleichzeitig so groß ist, von uns und unseren Gefühlen zu sprechen, anstatt dem anderen unseren Frust um die Ohren zu knallen, deren Ursache er nicht ist, dann öffnen wir damit nicht nur die Tür zu unserem Inneren, sondern legen gleichzeitig den Grundstein für ein harmonischeres und respektvolleres Leben in der Gemeinschaft.
Wenn nun jemand in uns eine Saite anschlägt, die uns weh tut, dann bedeutet das nichts anderes, als dass wir dieses Unangenehme, Schmerzvolle in uns noch nicht gelöst haben. Denn wenn es so wäre, würde es uns ja gar nicht berühren.
Wir regen uns nur über das auf, was auch mit uns zu tun hat. Wenn mich Fußball nicht interessiert, ist es mir schließlich auch egal, ob die gegnerische Mannschaft ein Tor schießt oder nicht. Wenn ich ein positives Bild von mir habe, dann ist es mir gleichgültig, wenn mir jemand sagt, dass ich eine Null bin. Soll er das doch von mir denken. Ich weiß, dass ich nicht so bin, wie er glaubt.
Seine Meinung berührt mich nicht wirklich. Wenn es mich jedoch verletzt, dass er schlecht von mir denkt, dann zeigt mir das, dass ich an mir zweifle. Im Grunde spüre ich, dass der andere recht hat: Ich fühle mich tatsächlich wie eine Null, will aber nicht, dass er das sieht. Schließlich tut es mir weh, mich so zu fühlen und ich will auf keinen Fall, dass man meine Schwäche entdeckt. Wenn also jemand den Finger auf meine Wunde legt, werden sich all meine Wut und Empörung gegen ihn entladen. Alles, was ich insgeheim mir selbst vorwerfe, werfe ich der Einfachheit halber ihm vor die Füße.
Wir neigen seit jeher dazu, das, was wir von uns selbst nicht annehmen können, auf andere zu projizieren. Wir beschuldigen sie genau der Dinge, die wir in uns nicht wahrnehmen können oder wollen. Die Vorwürfe, die wir den anderen machen, spiegeln im Grunde unser eigenes Fehlverhalten. Jedes Urteil will davon ablenken, sich mit den eigenen Schwächen auseinanderzusetzen. Die Geschichte ist voll von Beispielen, nach denen wir das, was wir nicht haben wollen, auf die anderen projizieren.
Wir haben immer versucht, uns über sie reinzuwaschen und uns über sie von unseren eigenen Schwächen zu befreien. Wir haben das Blut der anderen auf Altären, in Kampfarenen und auf öffentlichen Schauplätzen vergossen, um uns selbst so sauber wie möglich zu fühlen: „Der andere muss sühnen. Ich bin noch einmal gut weggekommen.“ Wir laden das Übel auf ihn und lassen ihn dann von Löwen zerreißen, auf Scheiterhaufen verbrennen oder im Meer ertrinken. Er ist es, nicht ich. Über den kathartischen Akt befreien wir uns zumindest eine kurze Weile von dem Gefühl unserer eigenen Unzulänglichkeit. Doch das Gefühl der Erleichterung hält nicht lange vor und muss erneuert werden — denn im Grunde sind ja gar nicht die anderen das Problem, sondern wir selbst.
Oft mögen wir uns selbst nicht wirklich. Wer wäre schon gerne mit jemandem wie sich auf einer einsamen Insel?
Die Launen, die dunklen Gedanken, die Empfindlichkeiten, die Wutausbrüche, die Kleinlichkeiten, die Besserwisserei, die Sturheit, die Meckereien, die Gereiztheit, die Pingeligkeit, die Missgunst, die Lästerei, die Verschlossenheit … Gott bewahre mich davor, mit jemandem wie mir Schiffbruch zu erleiden! Wir haben diese Eigenschaften alle in uns. Doch gerne geben wir das nicht zu. Wer will schon mit seinen schlechten Seiten auffallen? Selbst an den düstersten Biertischen versuchen die Leute, sich im besten Licht zu zeigen und möglichst intelligent zu erscheinen.
Um von seinen eigenen Schwächen abzulenken, ist es am einfachsten, alle anderen als Idioten zu bezeichnen. Je lauter, desto besser. Doch je mehr wir von uns weisen, dass wir auch sind, was wir nicht sein wollen, desto mehr nerven uns die anderen. Je mehr wir unsere eigenen Schwächen verdrängen, desto stärker nehmen wir die der anderen wahr. Der größte Idiot ist schließlich der, der alle anderen für Idioten hält — wie in der Geschichte von dem Mann, der in ein neues Dorf zieht und einen, den er auf der Straße trifft, fragt:
„Wie sind die Leute hier denn so?“
„Wie waren denn die Leute in dem Dorf, aus dem Sie kommen?“, wird er gefragt.
„Alles sture Geizhälse.“
„Genau so“, ist die Antwort, „sind die Menschen hier auch.“
Wir verbringen eine Menge Zeit damit, uns über die anderen aufzuregen. Sie sind wie das Salz unseres Lebens. Dank der anderen haben wir immer ein Gesprächsthema zur Hand. Was würden wir uns langweilen, wenn wir nicht mehr tratschen, lästern, meckern und uns aufregen könnten! Wir wären unseren eigenen Schwächen ausgesetzt und müssten sehen, wie wir mit uns zurechtkommen. Es ist unbequem und unangenehm, dorthin zu schauen, wo es bei uns knatscht und quietscht und nicht rund läuft. Und warum sollte man sich auch mit solchen Sachen beschäftigen? Das Leben ist schließlich auch so schon anstrengend genug!
Doch der Preis für unsere Ignoranz ist hoch. Er misst sich in Einsamkeit, Perspektivlosigkeit und innerer Leere auf der einen Seite und in Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung auf der anderen. Das sind die Folgen unserer inneren Distanz, das heißt zwischen dem Bild, das wir von uns vermitteln wollen und dem Wesen, das wir wirklich in unserem Inneren sind. Je mehr wir als die erscheinen wollen, die wir nicht sind und je mehr wir uns selbst vormachen, desto größer ist der Schaden, den wir in uns und um uns herum anrichten.
Jemand, der sich gut kennt, der bei sich ist und mit sich selbst im Reinen, kommt nicht auf die Idee, andere für seine Missgeschicke verantwortlich zu machen und sich dadurch selbst aufzuwerten. Er begegnet ihnen mit ebenso viel Respekt und Würde, mit denen er sich selbst begegnet. Er hat überhaupt nicht das Bedürfnis, sich über andere zu erheben, sie zu kritisieren, zu unterdrücken, zu manipulieren oder sich an ihnen zu rächen. Wenn ich mich selbst annehme, so wie ich bin, brauche ich keinen perfekten Körper, keinen Besitz, mit dem ich mich aufwerten kann, keinen Clan, hinter dem ich mich verstecken kann, keine Macht über andere, um mich auf sie zu stützen.
Jemand, der in Einklang mit sich selbst lebt, muss sich nicht andere gefügig machen und sich selbst immer wieder seine vermeintliche Überlegenheit bestätigen. Er muss sich nicht an anderen bereichern, und die Kraft, die er selbst nicht hat, aus ihnen ziehen. Jemand, der wirklich großzügig und offenherzig ist, muss seine Qualitäten nicht an die große Glocke hängen. Er muss sich nicht ständig beweisen, dass er jemand ist, denn er weiß, wer er ist.
So sind die größten Tyrannen letztendlich die, die sich am unbedeutendsten fühlen. Sie schaffen es nicht, dorthin zu schauen, wo es sie schmerzt, und kompensieren das Gefühl ihrer eigenen Minderwertigkeit mit Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit, Kälte oder Härte.
Diejenigen, die sich über andere stellen, sind die, die am entferntesten von sich selbst sind. Sie blasen ihr Ego auf und beziehen ihre Lebensenergie über die Angst, die sie vermitteln. Nichts fürchten sie mehr, als dass man sie entlarvt. Sie haben kein Gespür für sich selbst und für andere und damit auch kein Bewusstsein für das, was sie tun. Oft ist ihnen nicht klar, welches Unheil sie anrichten. Die wenigsten fügen absichtlich Schaden zu und die Geschichte ist voll von Leuten, die „das nicht gewollt“ haben.
So wie wir. Denn wenn es uns wirklich bewusst wäre, was wir mit unserem Verhalten herbeiführen können, würden wir es dann noch tun? War es den Menschen während des Nationalsozialismus wirklich klar, an welcher Maschinerie sie mitwirkten? Würden wir es anders machen? Sind wir besser als die, auf die wir heute mit dem Finger zeigen? Vernichten nicht auch wir massenhaft Menschenleben, indem wir einfach nur mitmachen oder zuschauen? Doch im Gegensatz zu damals können wir heute nicht mehr sagen: „Das habe ich nicht gewusst.“
Wir haben nichts verstanden, solange wir nicht aufstehen und uns eingestehen: „Ja, ich habe das auch mitgemacht. Ich habe das auch mit veranlasst.“ Nur dann, wenn wir das, was uns von einer hoch entwickelten Kultur zu Bestien gemacht hat, nicht aus uns ausklammern, können wir uns von unserer Vergangenheit befreien. Wenn wir innerlich annehmen, was wir sein können, auch ohne es zu wollen, müssen nicht immer wieder neue Generationen von Neonazis aufmarschieren und uns daran erinnern.
Nur das, was wir in uns akzeptieren, lässt uns außen in Ruhe. Das Schlimmste, was wir uns und anderen antun können, ist das Ausschließen, das Abtrennen, der Glaube, mit dem anderen nichts zu tun zu haben. Schließlich sind es nicht die Bomben, der Hunger und die Kälte, worunter die Menschen, die heute an die Grenzen Europas drängen, am meisten leiden, sondern die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber ihrem Leid. Indem wir den Blick abwenden und so tun, als gingen sie uns nichts an, schlagen wir ihnen direkt ins Gesicht und reißen noch tiefere Wunden als die, die sie ohnehin schon mit sich tragen.
Niemand weiß, wo der Ausweg aus dieser katastrophalen Lage liegt. Doch vielleicht können wir zumindest den Mut aufbringen, den Leidenden in die Augen zu sehen. Auch wenn wir dem, der die Hand ausstreckt, vielleicht keine Münze zu geben haben, so können wir ihm doch zumindest den Respekt erweisen, ihn zu grüßen. Der schlimmste Schmerz wird erträglicher, wenn wir die Solidarität und das Mitgefühl der anderen spüren und wenn eine andere Hand die unsrige hält. Nur dann, wenn wir es schaffen, uns zusammenzuschließen und miteinander zu verbinden, werden wir unsere Probleme dauerhaft lösen können. Wir gehören zusammen. Wir sind aus demselben Stoff, Teile einer Matrix. Was auch immer wir mit den anderen machen, tun wir uns im Grunde selbst an.
Tief in uns spüren wir ja, dass wir miteinander vereint sind — auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. In uns fließt derselbe Lebenssaft, wirken dieselben Gesetze, bahnt sich dasselbe Licht seinen Weg.
Wir sind vereint in unserem Sehnen, in unserem Wunsch nach Geborgenheit, Verbundenheit und Anerkennung. Wir kennen alle den Schmerz, wenn wir sie nicht finden, und die Angst vor der Trennung. Das, was uns im anderen gegenüberzustehen scheint, ist im Grunde der Widerschein einer Verbindung, ohne die wir uns nicht spüren würden. Ohne unsere Begegnungen könnten wir nicht vorankommen. Sie inspirieren uns, sie reizen uns, motivieren uns, stacheln uns an und geben uns Vertrauen. Sie führen uns in unser inneres Dickicht und helfen uns dabei, uns zu ent-wickeln: die Schleier zu heben. Sie zeigen uns, was leicht und durchlässig in uns ist und das, was hart und dicht ist und woran wir noch zu arbeiten haben.
Es ist, als poliere man einen Stein: Nach und nach wird seine raue Schicht geglättet, bis das Licht sich in ihm reflektieren kann. Die anderen helfen uns, unser Licht zu finden und die Distanz zu uns selbst zu überwinden. Denn alles Übel hat hier seinen Ursprung: in der Entzweiung, in der Spaltung, im Diabolos. Die Trennung von anderen, von der Natur, von uns selbst macht uns und die Welt krank. Die Welt wird nicht gesunden können, wenn wir es nicht tun. Nichts wird sich äußerlich zum Besseren wenden, wenn wir es innerlich nicht tun. Das Problem ist die Trennung, die Lösung ist die Einheit. Wir haben dieses Leben dafür, uns zu ent-decken und Schicht um Schicht abzutragen von dem, was auf uns lastet und uns hart und verschlossen macht. Wenn wir sie bewusst erleben, ist jede Begegnung, jede Situation eine Gelegenheit, uns transparenter und offener zu machen und die eigenen Widerstände zu überwinden.