Vieles, was wir als dunkel empfinden, wird heller, wenn wir es aussprechen. Daher startet die Aufwind-Redaktion eine Schreibaktion.
von Kerstin Chavent
Worte können heilende oder zerstörerische Kraft haben. Es liegt an uns, in welcher Absicht wir sie benutzen. Eine Schwierigkeit, ein Problem, wie auch immer sie geartet sind, können aufgelöst werden, indem sie in Worte gefasst und damit ins Licht des Bewusstseins gebracht werden. Sie verwandeln sich von ganz allein, ohne dass wir daran herumbrechen müssen. Das Bedrohliche kann nur im Verborgenen wirken und muss sich dem Licht beugen wie die Vampire der aufgehenden Morgensonne. In diesem Sinne ruft die Mutredaktion eine Sommeraktion ins Leben. Sie fordert ihre Leser dazu auf, kreativ zu werden und dank der Macht der Worte das Dunkle und Schwere in etwas Helles, Leichtes zu verwandeln.
Am Anfang war das Wort, so steht es im Johannesevangelium. Logos auf Griechisch, verbum auf Lateinisch. Man muss nicht an Gott glauben, um sich vorstellen zu können, welch schöpferische Kraft von dem Wort ausgeht. Ein Wort kann gesund oder krank machen. Etwas lapidar Dahingesagtes kann uns Jahre oder sogar ein Leben lang verfolgen. Die Aussage „Du bist nichts wert“ kann uns zerstören und ein „Ich liebe dich“ Berge versetzen.
Eine Autoritätsperson, die uns sagt, wir sind zu nichts zu gebrauchen oder dem Tode geweiht, kann Recht behalten, wenn wir dem Gesagten Glauben schenken. Dagegen kann der liebende Mensch, der sein Vertrauen in uns setzt, das Beste in uns zum Erblühen bringen. Worte können wie Placebos wirken oder, im Gegenteil, wie Nocebos. In ihnen schwingt eine eigene Energie, die uns das Leben zur Hölle oder zum Paradies machen kann.
Die Verbindung zwischen Denken, Sagen und Handeln
Daran kann niemand zweifeln, der die Wirkung eines Ja oder eines Nein kennt. Worte schaffen Realitäten. Sie geben die Richtung an, in die etwas weitergeht. Sie bedingen unser Handeln. Jedem Wort geht ein Gedanke voraus, denn sonst könnte es sich nicht formulieren. Auf diese Weise ist unser Tun untrennbar mit dem gedachten und dem gesprochenen Wort verbunden.
In uns herrscht Einklang, wenn Denken, Sagen und Tun einander entsprechen. Wir sind mit uns im Reinen. Ich tue etwas, mit dem ich einverstanden bin. So geht es mir gut. Es geht mir nicht gut, wenn ich anders handele als ich denke oder sage. Wenn ich in meinem Tun der Energie des Wortes entgegenwirke oder sie behindere, kann sie nicht mehr gleichmäßig fließen. Es entsteht ein Ungleichgewicht. Ich komme mit mir selbst in Konflikt.
Die Sprache des Körpers
Wenn ich mit Menschen zusammen bin, mit denen ich mich nicht wohl fühle oder die ich ablehne, wenn ich eine Arbeit verrichte, die ich sinnlos finde oder die meinen Werten nicht entspricht, kann ich auf Dauer nicht nur unglücklich werden, sondern krank. Das Problem ist dann nicht die Krankheit. Mein Körper zeigt mir nur, dass etwas auf einer anderen Ebene nicht in Ordnung ist. Mein Problem bahnt sich seinen Weg und findet schließlich Ausdruck im Symptom.
Auf dieser Ebene nehmen wir es wahr. Unzufriedenheit, Überdruss, Sehnsucht, Trauer, Wut, Ängste, das Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit schlagen uns schließlich, so weiß es der Volksmund, auf den Magen. Sie gehen uns an die Nieren, die Galle, die Leber oder kommen uns zu den Ohren heraus. Hier können wir sie weniger ignorieren. Unser Körper fordert uns sozusagen in seiner Sprache dazu auf, uns um das Problem zu kümmern.
Es kann gelöst werden, wenn ich dorthin zurückgehe, wo alles anfängt: zum Wort. Was macht mich unzufrieden, überdrüssig, sehnsüchtig, traurig, wütend, ängstlich? Aus welchem Grund fühle ich mich leer und empfinde ich mein Leben als sinnlos? Dorthin zu schauen, wo es schmerzt, ist nicht einfach. Wenn wir eine Wunde haben, ist der erste Reflex, sie schützend abzudecken und in Ruhe zu lassen. Doch wenn sie nicht gereinigt wird, schwelt sie weiter und droht, auch ihre Umgebung in Mitleidenschaft zu ziehen.
An verklebten Schorfkrusten zu kratzen tut weh. Es kann wieder anfangen zu bluten, das ganze Ausmaß des Schmerzes kann noch einmal sichtbar werden. Wunden, die wir vor Langem vergessen haben, können wieder anfangen zu pulsieren, zu brennen, zu stechen. Die meisten von uns wehren sich dagegen und ziehen es vor, mit ihren Krusten zu leben. Doch dadurch werden wir unbeweglich und undurchdringlich. Wir stumpfen ab und lassen uns insgesamt weniger berühren.
Über alte Gewissheiten hinaus
Bis zu dem Tag, an dem ich einen Tumor in meiner Brust ertastete, hielt ich mich für einen zufriedenen, ausgeglichenen Menschen, der seine eigenen Wege geht und voll im Leben steht. Doch mein Körper erzählte mir eine andere Geschichte. Was lange verborgen geblieben war, drückte mit Wucht an die Oberfläche: Der Schmerz darüber, kinderlos geblieben zu sein, das Gefühl des Versagens, die damit einhergehende Sinnlosigkeit, deren Loch ich mit allen möglichen Aktivitäten vergeblich zu stopfen versucht hatte.
Bequem war diese Erkenntnis nicht. Es war eine echte Herausforderung, an alten Vorstellungen zu kratzen und meine bisherigen Gewissheiten in Frage zu stellen. Alleine bin ich aus dem Sumpf nicht herausgekommen. Geholfen haben mir dabei andere Menschen, die Sensibilität meines Körpers und das gedachte, gesagte und geschriebene Wort.
Die heilende Kraft des Wortes
Das Wort bahnte sich seinen Weg: In meinen Therapien, im Gespräch mit anderen Menschen und schließlich auf dem Papier. Es bleibt für mich ein Mysterium, wie es dorthin kommt, wie es sich formuliert, an welche Stelle es sich setzt und zu welchem Zeitpunkt. Es presst sich nicht durch meine Gehirnwindungen. Ich muss nicht nach ihm jagen. Es kommt wie von alleine geflogen. Ich muss mich nur öffnen und ihm einen Platz bereiten, ihm die Gelegenheit geben, sich zu zeigen.
Für mich hat das geschriebene Wort heilende Kraft: Das Wort, das ich selbst schreibe, mit der Absicht, etwas zu klären, zu lösen, in ein anderes Licht zu rücken, und das Wort, das ich von anderen empfange und in mir wirken lasse. Auf diese Weise wird der Umgang mit dem Wort für mich zu einer Art alchimistischem Prozess. Es ist die Entscheidung, vor einem Problem — Krankheit, Trennung, Verlust, Sorge, Konflikt — nicht versuchen zu fliehen oder es zu bekämpfen, sondern stattdessen Licht hineinzuschicken.
Die Alchimisten, die ältesten Wissenschaftler unserer Zivilisation, haben das Dunkle, Banale, Bedrohliche nicht weggeworfen. Sie haben aus Blei Gold gemacht. Schicht für Schicht haben sie abgezogen, bis die Materie zu leuchten begann und das Licht hindurch schien, das sich in allem verbirgt. Auch wenn diese Kunst heute selten geworden ist: Wir haben in jedem Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit, Licht ins Dunkel zu schicken.
Die Feder in die Hand nehmen
Es liegt in unserer Macht, kreativ zu werden und die Dinge nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Wir können ihnen eine neue Form geben und sie in eine andere Richtung lenken. Wir sind nicht wie die Sklaven im Rumpf einer Galeere, sondern Kapitän unseres Schiffes. Das Steuer ist meine Feder. Auch wenn ich, weniger poetisch, an der Tastatur eines Computers sitze: Die Worte, die sich hier formulieren, weisen mir die Richtung.
Mögen dunkle Wolken über den Himmel fegen, mag es stürmisch sein, der Wellengang hoch und der Horizont zeitweise außer Sicht — das Wort kann mir niemand nehmen. Das Wort wurde uns geschenkt und niemand hat die Macht, das rückgängig zu machen. Mögen uns auch die Hände gebunden sein, in seinem Inneren kann jeder von uns entscheiden, ob er mit seinem Wort kreativ wirken möchte oder zerstörerisch, integrierend oder wegstoßend, verbindend oder trennend.